19.08.2010

Wach auf!

Mathilde Wesendonck: Natur-Mythen. 1865Wach auf!


1865

Gedicht aus dem Sagenbuch


Dieses Gedicht wurde im Sagenbuch Natur-Mythen von Mathilde Wesendonck im Jahr 1865 veröffentlicht.

 

Wer dieses Gedicht aufmerksam liest, wird ein paar Wörter finden, die von Wagners Ring des Nibelungen wohl entliehen sind. Hier hat er stark in den altgermanischen Wortschatz gegriffen oder selbst erfunden? Denn was bedeutet in Wach auf!: Sein Herz schlägt so jach; oder: Durch die Klinze lugt der Föhn? In der vierten Szene von Rheingold ruft Fafner: Hierher! Die Klinze verklemmt!
 
Mathilde Wesendonck: Wach auf! In: Natur-Mythen. 1865

Wach auf!

Wach auf! So ruft der Morgenstern
der schlafenden Sonne zu,
Frau Holda kränzt ihr goldenes Haar,
Wach auf! Was säumest Du?

Die Sonne reibt die Augen wach –
ihr war als wie im Traum –
es mißt ihr matt-schlaftrunck’ner Blick
den unermeßlichen Raum.

Ihr hatte geträumt – wer glaubt es wohl?
daß sie die Sonne wär‘,–
und daß der Erde dunkler Stein
ihr Herzallerliebster wär‘.

Sie wirft das gold’ne Strahlenkleid
sich über die Schulter schnell;
schlüpft in die gold’nen Schuh behend:
ihr Auge flammet hell.

So schreitet sie durch’s Himmelthor
in majestätischer Ruh,
es weicht die Nacht entsetzt zurück
vor ihrem goldenen Schuh.

Und heller flammt das Firmament,
hell flammet Näh‘ und Fern‘:
es weckt ihr erster Feuerkuß
tief unten den träumenden Stern.

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Es fährt empor aus dumpfem Schlaf
zu hellster Liebeslust;
sein jauchzend Herz schlägt so jach,
als wollt’s im zersprengen die Brust.

Dem Aug‘ entströmt ein Thränenquell –
ihn trinkt der goldene Strahl –
dann wird’s ihm im Herzen sonnenhell,
hell werden Berg und Thal.

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Wach auf! So hallt der Weckerruf
vom fernen Ost zum West;
die Vögel hören’s allzumal
und rüsten sich zum Fest.

Die Lerche steigt zum Wolkensaum
und schmettert’s durch die Luft;
die Möve trägt’s zum fernen Strand,
Frau Schwalbe zur Felsenkluft.

Der Wildbach schäumt in tollem Muth,
setzt über Wies‘ und Zaun,
es war von je ein „Thu‘ nicht gut“,
und allen Guten ein Grau’n.

Und mit ihm Bruder Liederlich
streicht lachend durch das Land:
Das ist der Föhn, schon freut er sich,
zu zausen Holda’s Band.

Doch unterdeß zum Zeitvertreib,
weil Bess’res ihm nicht frommt,
zerzaust er Baum und Strauch und schreit:
„Wach auf! Frau Holda kommt!“

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Wach auf! Der Schlüssel knarrt im Schloß,
Kyfhäuser thut sich auf,
und aus dem mütterlich bergenden Schooß
steigt Holda nun herauf.

Ein gold’ner Gurt umfaßt ihr Kleid,
wie Silber weiß und klar;
die Krone von Karfunkelstein
glänzt ihr im gold’nen Haar.

Und Schönheit, Jugend, Lieblichkeit,
sie bilden ihr Geleit,
doch Alle überstrahlet weit,
Holda’s Holdseligkeit.

Mit weißen Händen streut sie
den Segen auf die Flur,
und jauchzend kränzen Blüthen schon
der flücht’gen Füße Spur.

Geknickte Stengel richtet sie
mit zarter Sorgfalt auf;
helljubelnd fliegt der Sängerchor,
der Vögel ihr vorauf.

Auch in die allerärmste Brust
dringt Ahnen heut‘ von Heil:
Es pflückt von all‘ der Blüthenlust
das Menschenherz sein Theil.

Verstohlen durch die Klinze lugt
ganz ernsthaft Junker Föhn,
er hält galant den Athem an
und seufzt: „Das Weib ist schön“.

Nun wandersmüd‘ am Himmelsraum
die Sonne geht zur Ruh, –
durch ihre Seele zieht ein Traum –
die Augen fallen ihr zu. – 


Bilder:
  1. Vergrößern  Wesendonck, Mathilde: Natur-Mythen. Zürich 1865. Druck von David Bürkli in Zürich. 

Quellen:
  1. Wesendonck, Mathilde: Natur-Mythen. Zürich 1865, S. 7 - 12. 

Bibliografie:
  • Wesendonck, Mathilde: Natur-Mythen. Zürich 1865. Druck von David Bürkli in Zürich. 


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