10.08.2010

Humanistisches

Mathilde Wesendonck: Gedichte, Volksweisen, Legenden und Sagen. Verlag der Dürr'schen Buchhandlung, Leipzi 1874Humanistisches


1874

Gedichtszyklus


Dieser Gedichtszyklus von Mathilde Wesendonck wurde 1874 im Band Gedichte, Volksweisen, Legenden und Sagen veröffentlicht. [1]
 
 
Auszug aus der Analyse von Dr. phil. Björn Seidel-Dreffke:
 
[...] Die in dem Band von 1874 publizierten Gedichte zeigen eine weitere Facette ihres Schaffens. Einige darin sind von hohem Pathos getragen und behandeln vor allem weltumspannende und historische Themen, die das persönliche Empfinden immer versuchen, zu dem allgemeinen „Weltgeist“ emporzuheben.
Der Allgemeine Weltgeist, das Überwinden des Nationalen, womöglich auch durch den Amerika-Bezug ihrer und der Familie ihres Mannes inspiriert. Sie, die Patriotin, die sich an sich auch politisch immer interessiert zeigte, und vor allem einem einigen Deutschland das Wort redete, geht über diese alltäglichen Belange und den engen nationalen Bezug in den hier abgedruckten Gedichten weit hinaus.
Das „Allumfassende“, „Allumspannende“, das Ewige ist es wieder und wieder, was sie gedanklich umreißt. Dabei kommen auch konkrete historische Gestalten in ihr Blickfeld, wie unter anderem externer Wiki-Link Ulrich von Hutten, wo es am Ende aber vor allem um sein unsterbliches Vermächtnis für das gesamte Volk geht. Ulrich von Hutten kann man mit Fug und Recht als einen „revolutionären Geist seiner Zeit“ bezeichnen.
Bereits während seiner ersten Italienreise hatte Hutten das weltliche Auftreten des Papsttums erlebt und angeprangert. In den Folgejahren verschärfte sich diese Gegnerschaft: In Huttens Schriften trat an die Stelle einer humanistisch-aufgeklärten Kirchenkritik der Wunsch nach einem radikalen Befreiungsschlag, der die verweltlichte Kirche zur Räson bringen sollte (vgl. die Schriften im Gesprächbüchlin).[2]
Denn es ist die alte Freiheit,
Der Dein theu'res Herzblut rann,
Und es ist Vernunft und Wahrheit,
Die sie schlagen in den Bann.
Vernunft und Wahrheit, also das Rationale, das Nachweisbare, das ist es, was Mathilde in Huttens geistigem Nachlass entdeckt und in die Neuzeit transformiert.
Ihr poetisches Schaffen hat neben den aufrüttelnden Aufrufen allerdings auch noch andere Nuancen. [...] [3]
 
 
  
Der Gedichtszyklus von Mathilde Wesendonck, den sie 1874 in ihrem Gedichtsband Gedichte, Volksweisen, Legenden und Sagen veröffentlichte, umfasst diese zwölf Gedichte:
 
 
 

1. 
O daß atomengleich, ein zitternd Sonnenstäubchen.
    
O daß atomengleich, ein zitternd Sonnenstäubchen,
Ich frei im weiten All des Aethers schwebte,
O daß im Meeresschooß, als schimmernde Monere,
Bewußtlos ich des Daseins Räthsel webte!

Ich folgte blind dem Drange ew'gen Werdens,
Die Stoffe in's Gewand der Form zu kleiden,
Bekümmert nicht, die wechselnden Gestalten
Zu bannen in den Kreis von Lust und Leiden!

Ich sähe nicht, Natur, die bilderreiche,
Ihr kunstvoll köstliches Gefäß zertrümmern,
Säh' nicht, vom Piedestal herabgeschleudert,
Ein edles Götterbild in Staub verkümmern!

Nicht trieb es mich, mit sehnendem Verlangen
Die Schmerzensbande einer Welt zu lösen,
Ich büßte nicht in Bächen salz'ger Thränen,
Des Menschenlooses tiefgeheimnisvollstes Wesen!

Ich trüge nicht erbarmungsvoll im Busen
Der Menschheit ganzes ungesühntes Wehe,
Ich ahnte nicht — träumt sie den Himmel offen —
Des off'nen Grabes schauervolle Nähe!

Ich sähe nicht ihr Haupt, das ahnungsreiche,
Im Geistesfluge an die Sonne ragen,
Indeß, geschmiedet am Prometheusfelsen,
Den edlen Leib raubgier'ge Geier nagen!

Doch vorwärts, vorwärts drängen alle Wesen,
Es giebt kein Rückwärts in der Weltgeschichte,
Im Menschengeist schuf sich Natur die Leuchte
Und sitzt als Königin sich selber zu Gerichte.

Drum nimmer löst sich von des Daseins Kette,
Wer Menschenweh im tiefsten Sein empfunden,
Er wird in Schmerz sich wie in Purpur kleiden,
Und trägt, ein Held, als Sieger seine Wunden! —

 

2.
An Hutten's Geist.
 
Hörest Du die Glocken schallen
Von St. Petri stolzem Dom?
Siehst Du die Prälaten wallen
Nach der ew'gen Stadt, nach Rom?

Klingt es doch wie Grabgeläute
Und die Gräber thun sich auf,
Dunkelmänner-Schreckgestalten
Stehen von den Todten auf;

Wandeln, freche Nachtgespenster,
Frei am Sonnenlicht einher,
Feiern ihre Auferstehung,
Denn der Hutten ist nicht mehr!

Längst schon liegt im Grabe modernd
Er, der Held, viel hundert Jahr',
Der einst Deutschlands kühnster Kämpe
Und sein bestes Herze war!

Merkt es jauchzend, fromme Christen,
Fast erklommen ist das Ziel,
Todt auch sind die Humanisten,
Drum: es lebe das Conzil!

Sieh', sie führen ihn gebunden,
Deines Volkes Genius,
Seine Augen sind verbunden,
Ketten hemmen seinen Fuß.

Sei uns „Auferwecker“ wieder,
Heerfürst des Gedankens, Du,
Rüttle aus dem Schlaf die Glieder,
Hutten, Hutten, schlage zu!

Denn es ist die alte Freiheit,
Der Dein theu'res Herzblut rann,
Und es ist Vernunft und Wahrheit,
Die sie schlagen in den Bann.

Lern', o Hutten, nicht mehr warten,
Denn des Wartens ist genug,
Freier Forschung — Deinen Segen,
Der Verdummung — Deinen Fluch!

Zeuge, daß Dein edles Herze
Nicht umsonst geblutet hat,
Zeuge, daß Dein Geist unsterblich
Lebt in jeder freien That!

 

3.
Sabbathfeier.
 
Sabbathstille! Abendfeier!
Wo die müden Hände ruh'n,
Wo sich müde Augen schließen,
Wo die Thränen linder fließen
Und die Schmerzen sanfter thun.
Sei gesegnet, Friedenstaube,
Mit des Oelbaums heil'gem Laube,
Breite deine Flügel aus,
Bring' die Müden all' nach Haus!

Bin der Schule längst entwachsen,
Hab' den Weg dahin verlernt,
Seit zur Jungfrau ich erwachsen,
Hab' ich Bess'res wohl erlernt.
Doch, hör' ich die Besper läuten,
Ist's, als ob ich wie vor Zeiten,
Noch ein Kind, zur Schule ging,
Und mich auf den Sonntag freute,
Wie daheim ich ihn beging!

Sabbathstille! Abendfeier!
Wo die müden Hände ruh'n,
Wo sich müde Augen schließen,
Wo die Thränen linder fließen
Und die Schmerzen sanfter thun.
Sei gesegnet, Friedenstaube,
Mit des Oelbaums heil'gem Laube,
Senke deinen Flügelschlag:
Denn der Gottheit Sabbathfeier
Ist der Menschheit Ruhetag. —

 

4.
Wenn einst es keine Kirchen giebt.
 
Wenn einst es keine Kirchen giebt,
Drin gläub'gen Gottesdienst man übt,
Dann werde Deine Brust zum Dome,
Drin lauter, rein und ungetrübt
Die Wahrheit gleich der Gottheit throne,
Denn, was Du Menschliches geübt,
Wie Du gehaßt — wie Du geliebt —
Das bleibet Deines Lebens Krone. —

 

5.
Geh' Deines Weg's, thu' Deine Pflicht.
 
Geh' Deines Weg's, thu' Deine Plicht,
Ein rechter Mann verzaget nicht,
Und dünkt der Weg Dich noch so weit,
Es ist die Erdenspanne Zeit,
Wohl eh' Du's wähnst, verstrichen.

Woher Du kommst — ist Ewigkeit,
Wohin Du gehst — ist Ewigkeit,
Nichts hat mit Dir der Tod gemein,
Denn wo Du bist, kann er nicht sein,
Ist er — bist Du verblichen.

Und legst Du keine Flügel an,
So wie es lehrte frommer Wahn,
Legst Du doch ab Dein Sorgenkleid,
Legst Du doch ab all' irdisch Leid,
Dein Kummer ist gewichen!

Wer säng' der Schöpfung Herrlichkeit,
Und säng' er bis an's End' der Zeit?
Wer böte ihrem „Werde“ Halt,
In ewig wechselnder Gestalt
Dem Tode zu obliegen? —
 
 

6.
Heb' Dein Antlitz aus dem Staube.
 
Heb‘ Dein Antlitz aus dem Staube,
Fühl' es froh, ein Mensch zu sein,
Had're nicht mit dem Geschicke,
Lern' es, Dich der Menschheit freu'n!

Traurig ist's, wenn Augen weinen,
Wenn entflieht der Laut der Luft,
Lieblicher kein Ton in Sphären,
Als die Freud' aus Menschenbrust.

Kannst Du eine Thräne trocknen,
Magst beglückten Sinn's Du geh'n,
Fiel Dein Erdenloos bescheiden,
Fiel es drum nicht minder schön.

Laß das Jammern, laß das Klagen,
Mensch sein ist kein niedrig Loos,
Wurzelt gleich der Erdgebor'ne
Tief und fest im Mutterschoß.

In den Aether ragt die Krone
Hoch erhob'nen Angesichts,
Und es drängt sich Blüth' an Blüthe
Strebend zu dem Quell des Lichts!

An dem Blüthenbaum der Menschheit
Reift die Frucht, die gold'ne, spät, —
Doch im Schritte des Jahrhunderts
Unentwegt der Zeitgeist geht.

Was Jahrtausende gezeitigt,
Aufgespeichert liegt die Frucht,
Und der weise heut' wie damals
Unbeirrt die Wahrheit sucht.

Er allein, der erdgeboren,
Wurzelt tief im Mutterschooß,
Ward zur Schönheit auserkoren
Und die Liebe zieht ihn groß.

Wollt' er gleich den Engeln werden,
Harrt er nicht auf's Himmelreich,
Denn das Göttlichste auf Erden
Ist das Menschlichste zugleich.

Also lehrt der hohe Meister,
Der sich nennt: „des Menschen Sohn“,
Der in seiner Menschenliebe
Fand des Strebens höchsten Lohn.

Drum erheb' Dich aus dem Staube,
Fühl' es froh, ein Mensch zu sein,
Auf daß selbst er an sich glaube,
Lehr' ihn sich der Menschheit freu'n!
  
 

7.
Tod, wo ist dein Stachel?
 
Tod, wo ist dein Stachel?
Hölle, wo ist dein Sieg?
Heil dir, O Menschheit,
Vom Tode erstandene,
Zeitlich unendliche
Sterblich unsterbliche,
Menschliche, göttliche,
Hebe dein Haupt,
Das dornengekrönte,
Blutumwundene
Heilige Haupt,
Vom lastenden Fluche
Des Priesterwahns!
Siehe, der Hölle eherne Pforten
Sind nun gesprengt,
Am Boden klirren
Die schmachvollen Ketten,
Die dir den hohen, strebenden Geist
Schlugen in Fesseln!
Siehe, der Himmel
Mit thronenden Sonnen
Ist jubelnd geöffnet
Dem Licht der Erkenntniß!
Denn die Erlösung
Ist nicht des Einen,
Des Nazareners unsterbliche That,
Sondern sie ist die That der Menschheit
Im rastlosen Ringen nach Wahrheit! —
 
 

8.
Weh-Gesang der Mütter.
 
I.
Wehe Euch Männern!
Wehe, was thaten
Zu leid' Euch
Die ewigen Mütter?
Sie, die von Anbeginn
Lauschten der Nornen
Wettgesang
Auf kreisenden Sphären?
Sie, die am
Schöpfungsmorgen der Erde
Vom flammenden Busen
Der Sonne gerissen,
Als zündende Funken
Im Weltall kreisten,
Urmutter, Weisheit
Im Busen bewahrten,
Auf niedrigster Stufe
Des dunkeln Planeten
Leben erweckten,
Aus Liebe erzeugten,
Aus Liebe erhielten
Ein werdend Geschlecht?
Sie, die in Grüften,
Klüften und Schlüften,
In Meeresgründen
Unsterbliches Leben,
Unsterbliches Weben
Im Wechsel und Wandel
Der Erdenloose
Den Wesen verkünden?
 

II.
Wehe Euch Söhnen!
Wehe, was thaten
Zu leid Euch
Die ewigen Mütter?
Sie, die von Anbeginn
Saßen und sorgten
An der Menschheit Wiege,
Schlummerlos, kummervoll,
Unermüdlich!
Daß nun mit Hohne,
Der Gutthat zum Lohne,
Ihr schleudert den Fluch
An das ehrwürdige Haupt
Der Wehe-Mutter?
Daß ihren Töchtern
Ihr wehret zu walten
Des Priesteramtes
Am Altar der Weisheit?
Daß ihnen trotzig
Ihr wehret zu wallen
Zum heiligen Herde
Des Alles erfüllenden,
Alles verjüngenden,
Nimmer versehrenden,
Immer verklärenden
Urquell des Lichts?
 

III.
Wehe Euch Männern!
Das mütterlich weibliche,
Ist es zugleich nicht
Das uranfängliche,
Nimmer vergängliche
Werdende, waltende,
Liebend erhaltende,
Segensreich spendende,
Ewig vollendende
Urwelts-Princip?
Also versündiget
Sich an dem Weltgeist,
Sich an dem rächenden
Geiste der Zeiten,
Er, der des Weibes
Adel verläugnet,
Schnöde es stürzet
In Orkus' Nacht,
In der Unwissenheit
Finsternissen,
Die kein Strahl erhellt,
Der von des Wissens
Prunkender Tafel
Als Brosamen fällt!
Fern von des Geistes
Sonnigen Tempeln,
Gespenstig,
schattenhaft,
Nach Art der Lemuren
Als Halbnaturen
In Kümmernissen
Ein freudloses Dasein zu fristen!
 

IV.
Wehe Euch Männern!
Weh', Ihr ermordet
In thör'ger Verblendung
Im Schooße der Zukunft
Das eig'ne Geschlecht,
Denn die Allewige,
Gütig gerechte,
Unbestechliche
All-Natur,
Den Frevel sie rächt!
Siehe, vom
Gramerfüllten Busen
Schleudert den
Giftigen
Fluch sie zurück,
Denn nicht geschieden
Vom Schicksal des Weibes
Ist des Mannes Geschick!
 

V.
Alles Gewordene
Strebt nach Vollendung,
Und der Erkenntniß
Goldene Frucht —
Unverflucht —
Reifet für Alle!
Nacht und Sonne,
Verzweiflung und Wonne
Sind allen athmenden
Wesen gemein,
Und aus der Grab-Nacht
Des Letzten der Sklaven
Steigt, von des Frühroths
Schwänen getragen,
Jauchzend begrüßt
Vom helljubelnden Chor
Ueberströmender Herzen:
Der Frauen Freiheitstag empor!
 
 

Bilder:
  1. Vergrößern Wesendonck, Mathilde: Gedichte, Volksweisen, Legenden und Sagen. Verlag der Dürr'schen Buchhandlung, Leipzig 1874.

Quellen:
  1. Wesendonck, Mathilde: Gedichte, Volksweisen, Legenden und Sagen. Verlag der Dürr'schen Buchhandlung, Leipzi 1874, S. 77 - 96. 
  2. externer Wiki-Link Ulrich von Hutten  
  3. Seidel-Dreffke, Björn: 3. Humanistische Gedichte von Mathilde Wesendonck. In: interner Link The Mysterious Wesendoncks. Deutsche Emigration in die USA im 19. Jahrhundert und der Sezessionskrieg von 1861–1865. Selbstverlag, Berlin 2022, S. 240 - 241. 

Links:
  • Seidel-Dreffke, Björn: 3. Humanistische Gedichte von Mathilde Wesendonck. In: interner Link The Mysterious Wesendoncks. Deutsche Emigration in die USA im 19. Jahrhundert und der Sezessionskrieg von 1861–1865. Selbstverlag, Berlin 2022, S. 237 - 265.   

Bibliografie:
  • Wesendonck, Mathilde: Gedichte, Volksweisen, Legenden und Sagen. Verlag der Dürr'schen Buchhandlung, Leipzig 1874.
     
  • Thomas Seidel (Hrsg.): The Mysterious Wesendoncks. Deutsche Emigration in die USA im 19. Jahrhundert und der Sezessionskrieg von 1861–1865. August, Hugo und Otto Wesendonck in den USA. Ann Hardy Beardshall übersetzt von Björn Seidel-Dreffke. In: Schriften des Mathilde-Wesendonck-Verbandes. Heft 2, Teil I und II. Selbstverlag, Berlin 2022.  


Keine Kommentare: