22.08.2010

An die Mutter

Mathilde Wesendonck: Gedichte, Volkslieder, Legenden, Sagen. 1862An die Mutter


1862

Gedichtszyklus


Sechs Gedichte von Mathilde Wesendonck aus dem Jahre 1862, publiziert in ihrem Band Gedichte, Volkslieder, Legenden, Sagen zum Ableben ihrer Mutter, Johanna Luckemeyer
 
Am 30.01.1862 verstarb sie in Düsseldorf und wurde im Familiengrab auf dem Friedhof Düsseldorf-Golzheim beigesetzt.
 
Familiengrab von Luckemeyer und Deus
  Familiengrab von Luckemeyer und Deus. [1]

   
An die Mutter. [2]
 
I. 


Im Traume sah am Bette
Ich jüngst die Mutter stehn,
So wie sie zu den Kindern
Pflegt' abendlich zu gehn.
 
Sie strich mit ihren Händen
Die Linnen glatt und fein,
Und nahm die weichen Decken
Und hüllt' mich fester drein.
 
Sie küßte mir die Augen,
Sie küßte mir den Mund;
Ich war so froh und wähnte,
Sie sei nun ganz gesund.
 
Doch als ich drauf erwachte,
Da ward mir's wieder klar,
Daß sie vor vielen Monden
Ja schon gestorben war.
 

 

II. 

Ich war ein Kind und spielte
Mit Spielzeug mancherlei,
Wenn man zu Bett mich brachte,
Da sangen sie Eiapopei.
 
Nun bin ich groß geworden,
Das spielen ist vorbei,
Und ob ich schlaf', ob wache,
Ist Alles einerlei.
 

 

III. 

Wie möcht' ich doch so gerne
Einmal zur Mutter gehn,
Ihr in das liebe Antlitz
Und in die Augen sehn.
 
Ich eil' in ihre Kammer,
Hu! die ist kalt und leer;
Mich däucht, hier schlug schon lange
Kein liebend Herze mehr!
 
Die lieben trauten Augen,
Sie hat sie zugemacht,
Sie winken nur im Traume
Mir schweigend: gute Nacht.
 

 

IV. 

Geh' heim zu deinen Kindern
Und lass' die Mutter ruh'n;
Soll es dein Weh dir mindern,
Versuch's, ihr nachzuthun.
 
Sie barg ihr stilles Weinen
Im großen Mutterherz,
Und trat sie zu den Kleinen,
So war's mit Laun' und Scherz.
 

 

V. 

Grabt ein Grab,
Doch nicht klein darf es sein:
Mutter-Liebe legt hinein.
Mutter-Segen wollet hegen,
Hehren Herzens rein.
 
Wälzt darauf
Einen Stein, hart und fein,
Urne soll ihm Krone sein.
Kindes-Sehnen, Kindes-Thränen
Schließe sie mit ein.
 

 

VI. 

Mochte deine Liebe,
Mächtigster der Triebe,
Kalt vom Leben ab
Wenden sich in's Grab?
 
Nein, es blieb die Liebe
Mächtigster der Triebe,
Nur dein Herz erlag,
Als der Tod es brach.
 
Siegreich über'm Grabe
Thronet, hehrste Gabe,
Mächtigster der Triebe,
Mutter, deine Liebe.

 

Bilder:
  1. Vergrößern Wesendonck, Mathilde: Gedichte, Volkslieder, Legenden, Sagen. 1862.

Quellen:
  1. E-Mail vom 01.03.2015 von Julia Lambert
  2. Wesendonck, Mathilde: Gedichte, Volkslieder, Legenden, Sagen. Druck E. Kiesling, Zürich 1862, S. 34–38. 

Bibliografie:
  • Wesendonck, Mathilde: Gedichte, Volkslieder, Legenden, Sagen. Druck E. Kiesling, Zürich 1862.


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